Russisch-ukrainischer Dialog
Das experimenta Magazin lädt ukrainische und russische Autori:nnen zum literarischen Dialog ein. Einmal im Monat werden literarische Abhandlungen in Form von Essays, Lyrik oder Interviews einer breiten Öffentlichkeit gestellt.
experimenta Leser:innen werden ebenfalls aufgefordert, sich an dem Dialog zu beteiligen.
Eine Voraussetzung ist, dass keine Kriegs- oder Militärtermini verwendet werden. Dem Dialog soll eine gewaltfreie Kommunikation zugrunde liegen.
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DEZEMBER 2022

Liebe Leserin, lieber Leser der experimenta!
Die Sprache prägt unsere Sicht auf die Welt. Diese Tatsache bleibt nicht ohne erhebliche Folgen. Mit der Herrschaft über die Sprache lässt sich nämlich auch die Herrschaft über das Denken der Menschen gewinnen. Das wusste und weiss niemand besser als Diktatoren. Das schrecklichste Beispiel dafür hat uns bekanntlich die Propaganda der Nationalsozialisten geliefert. Wenn da etwa von «Endlösung» die Rede war, aber «Massenmord an den Juden» gemeint wurde, war das eine der niederträchtigsten Formen von Sprachlenkung.
Doch Vorsicht vor der Annahme, Sprachlenkung gehöre der Vergangenheit an. Im Gegenteil: Es gibt sie heute in einem Ausmass, die uns erblassen lässt. Wenn da Preisanpassung gesagt wird, aber Preiserhöhung gemeint ist, wenn anstatt von radioaktiv verseuchtem Müll von Sondermüll die Rede ist, und wenn ein Arbeitnehmer nicht entlassen, sondern nur freigestellt, ein Vertriebener zum Aussiedler gemacht wird, und wenn schliesslich der Kremlchef Wladimir Putin von «militärischer Spezialoperation» spricht, aber Krieg und Zerstörung eines Landes im Auge hat, so ist das nicht weiter als eine fürchterliche Umbiegung der Sprache. Darüber sollten wir nachdenken.
So bestimmt denn die Sprache nicht nur unser Denken und Handeln und unsere Gefühle, sondern weitgehend auch unsere Weltsicht. Wer sich sprachlich nicht oder nur ungenügend äussern kann, der kann nicht nur seine Gedanken schlecht ordnen, sondern hat auch keine klare Sicht auf unsere Welt, denn die Welt, in der wir immer schon erfahrend leben, ist stets sprachlich erschlossene Welt. Daher ist Sprachbildung, und dies nicht nur in der Schule, dringender denn je, soll uns die Sprache als hohes Kulturgut und als unser wichtigstes Werkzeug erhalten bleiben. Tragen wir also, bei aller Würdigung des sprachlichen Wandels, Sorge zu unserer Sprache; sie ist die Sprache, mit der wir aufgewachsen sind, deren Klang wir von der ersten Minute unseres Lebens an hörten. Ihre Worte halfen uns, die Umwelt wahrzunehmen, uns die Welt zu erschliessen und damit letztlich unsere Identität zu finden. «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» Dieses weithin bekannte Wort des österreichisch-englischen Philosophen Ludwig Wittgenstein ist heute gültiger denn je.
Prof. Dr. Mario Andreotti

Mario Andreotti, Prof. Dr., Mitherausgeber der experimenta, war Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und ist heute noch Dozent für Neuere deutsche Literatur an zwei Pädagogischen Hochschulen. Daneben ist er Mitglied des Preisgerichtes für den Bodensee-Literaturpreis sowie der Jury für den Ravicini Preis, Solothurn. Er ist zudem Buchautor. Von ihm erschienen bei Haupt/UTB das Standardwerk Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens (6., stark erw. und aktual. Aufl. 2022) und im FormatOst Verlag der Band Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache (2019).
E-Mailadresse: mario.andreotti@hispeed.ch