SWR2 Interview mit Rüdiger Heins
Dass die experimenta einmal so erfolgreich sein würde, hatte sich Rüdiger Heins vor über 20 Jahren wohl nicht gedacht, als das Magazin mit gerade einmal 80 Abonnenten an den Start ging. Mittlerweile sind es mehr als 20.000, die sich regelmäßig monatlich dafür interessieren. Grund genug für „SWR2 am Samstagnachmittag“ mit dem Autor und Regisseur über diesen Erfolg zu sprechen. Carola Hornig hat sich mit Rüdiger Heins unterhalten, auf der folgenden Website gibt es das ganze Interview:
Die Sendung wurde am Samstag 16.4.2022 um 14:05 Uhr ausgestrahlt.
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Literatur, Kunst und Kultur sind in diesen Zeiten wesentliche Komponenten, um das innere Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, damit die Lebensfreude nicht verloren geht.
APRIL 2023
Zäune und Lager. Die Dichter und die Christen
Wir alle wissen es: Die Religion fristet in unseren Tagen im privaten wie im öffentlichen Raum ein Aschenputtel-Dasein. Anfang der 1970er Jahre gehörten noch über 90% der Schweizer Bevölkerung einer der beiden Landeskirchen, der reformierten oder der katholischen Kirche an; heute sind es nur noch etwas mehr als 50%. War noch vor fünfzig Jahren bloss ein Prozent der Bevölkerung ohne Konfession, so sind es heute 30%. Und der Trend setzt sich fort. Nicht anders steht es in Bezug auf den Glauben: So glaubt nur noch einer von drei getauften Christen an die Auferstehung Jesu und an ein Leben nach dem Tod. Der Rest feiert Ostern als legendäres Eiersuch- oder als Gotthardstau-Ritual. Man mag es bedauern, aber es ist so: Institutionelle Religiosität, wie sie die Landeskirchen anbieten, verliert in einer völlig säkularisierten Welt immer mehr an Boden.
Kann es da verwundern, dass der Säkularisierungsprozess auch an der zeitgenössischen Literatur nicht spurlos vorübergegangen ist? Zwar haben sich Literatur und christlicher Glaube schon seit der Aufklärung, seit der beginnenden Auseinandersetzung zwischen Wissen und Glauben im 18.Jahrhundert, zunehmend auseinandergelebt. Und spätestens seit dem Naturalismus, seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert also, verschwinden typisch christliche Themen, sieht man einmal von den bewusst christlichen Dichtern ab, fast ganz aus der Literatur.
Freilich wirken christliche Vorstellungen punktuell gerade auch in der modernen Literatur des 20. und 21.Jahrhunderts weiter. So etwa, wenn Kafka in seinen Werken die Pervertierung göttlicher Gnade zeigt oder wenn Dürrenmatt im „Meteor“ den christlichen Auferstehungsglauben verfremdet oder wenn gar eine Elfriede Jelinek in ihren Theaterstücken und Romanen eine religiöse Formelsprache verwendet. Wo das „Christliche“ in der modernen Literatur noch auftaucht, da erscheint es fast durchwegs als negatives Element: als Religions- und Gesellschaftskritik an den Christen, z.B. an ihrem unpolitischen Verhalten, ihrer Nähe zur Macht, ihrer Doppelmoral, aber auch an ihrem Heilsegoismus. Die Kritik reicht von Bertolt Brecht über Heinrich Böll, Arno Schmidt und Rolf Hochhuth bis hin zu Kurt Marti.
Das Verstummen einer genuin christlichen Literatur in der Moderne hängt letztlich mit der Unvereinbarkeit des Glaubens an einen von Gott geordneten Kosmos, auf dem jede wirklich christliche Dichtung ruht, und der modernen Grunderfahrung einer in sich heillos zerrissenen, gesichtslosen Welt zusammen. Zwar stehen die grossen Themen der religiösen Dichtung einer Gertrud von Le Fort, einer Elisabeth Langgässer, einer Luise Rinser, eines Werner Bergengruen oder einer Silja Walter, wie etwa die Bewährung des Menschen in den Anfechtungen der Welt, das Ausgesetzt-Sein des Christen ohne Heilsgewissheit, menschliches Dasein zwischen Freiheit und Schuld dem modernen existentiellen Denken nahe, doch zu einer gegenseitigen Befruchtung kommt es kaum. Doch nicht nur die Christen, auch die modernen Autorinnen und Autoren haben einiges zu bedenken. Bei ihnen lässt sich eine gewisse Überheblichkeit allem Christlichen gegenüber kaum von der Hand weisen. So, wenn sie die christliche Literatur, ohne das eigene Urteil auch nur im Geringsten kritisch zu prüfen, vorschnell mit Begriffen wie „rückwärtsgewandt“ und „reaktionär“ abtun. Beide Seiten, moderne Dichtung und christlicher Glaube, sollten nicht weiter Zäune und Lager errichten. Das hiesse einerseits, dass sich eine christliche Dichtung nicht mehr ständig auf eine das Leben angeblich sichernde Ordnung zurückziehen dürfte. Und das hiesse andererseits, dass moderne Autorinnen und Autoren vermehrt eingestehen müssten, dass in christlichen Dichtungen, bei aller Darstellung einer gebrochenen Welt, stets etwas von dem spürbar sein darf, was der Christ Heilsgeschichte nennt. Auf diese Weise könnte ein Dialog zwischen den beiden Seiten gelingen. Wie sagte doch Gottfried Benn: „Reden wir zusammen; wer redet, ist nicht tot.“
Mario Andreotti
Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor,
Mitherausgeber der eXperimenta